
Darstellung von Vietor, der von Drachen aus der Höhle gerettet wird, von Athanasius Kircher, 1665
Die Drachenhöhle ist eine Sage über einen Mann, der in eine Drachenhöhle fällt. Es sind diverse mündlich überlieferte Versionen aus der Schweiz bekannt, jedoch gibt es schriftliche Quellen, die Jahrhunderte zurückreichen.
Geschichte[]
11. Jahrhundert[]
Der Sufi-Mystiker Abū l-Hasan ʿAlī ibn ʿUthmān Hudschwīrī (990 - 1071/1077) erwähnt in seiner Abhandlung Kashf al-Maḥjūb eine Geschichte über den Scheich Abú Ḥamza al-Khurásání. Dieser soll einst in eine Grube gefallen sein. Als nach drei Tagen eine Gruppe Reisender vorbeikamen, wollte er um Hilfe rufen, entschied sich aber dagegen, da er glaubte, damit Gottes Entscheidung, ihn in die Grube fallen zu lassen, nicht zu respektieren. Die Reisenden sahen die Grube, aber nicht Abú Ḥamza in ihr, und bedeckten sie, damit niemand hineinfällt. Voller Verzweiflung betete Abú Ḥamza zu Gott, und am Abend kam ein Drache und ließ seinen Schwanz in die Grube, so dass Abú Ḥamza daran hochklettern konnte. Danach hörte er eine göttliche Stimme, die zu ihm sprach, dass er durch den Tod (ein tödliches Monster) vor dem Tod (in der Grube) gerettet wurde[1].
13. Jahrhundert[]
In seiner Historia Anglorum erwähnt Matthäus Paris für das Jahr 1195 die Geschichte des Veneziers Vitalis, welcher in eine Grube fiel, in der er mit einem Löwen und einer Schlange gefangen war. Er machte ein Kreuzzeichen und wurde so von den Tieren verschont, bevor ihn später ein Bauer rettete[2][3].
14. Jahrhundert[]
Die Gesta Romanorum (14. Jahrhundert) enthält eine Version der Sage, laut der ein armer Mann während der Amtszeit eines Königs im Wald Holz sammeln ging und dabei in eine Grube fiel. In dieser lebte ein Drache, dessen Schwanz die ganze Grube umfasste, und eine große Anzahl an Schlangen. In der Mitte befand sich ein Stein, an dem all die Schlangen leckten, gefolgt von dem Drachen. Nach einigen Tagen ohne Nahrung leckte auch der Mann an dem Stein und er schmeckte nach jedem guten Geschmack, den er sich wünschen konnte, und sättigte ihn vollständig[4].
Nach wenigen Tagen gab es ein starkes Gewitter, das alle Schlangen aus der Grube vertrieb. Als letztes wollte der Drache herausfliegen und der Mann hielt sich an seinem Schwanz fest. Schließlich wird er von Kaufleuten gefunden und aus dem Wald gebracht, doch kurz nachdem er seine Geschichte erzählt hatte verstarb er[4].
Die Gesta Romanorum bietet auch eine moralische Interpretation der Geschichte. So ist der König Gott im Himmel, während der Mann für Menschen im Allgemeinen steht. Die Grube ist die Sünde, und der Stein in der Mitte steht für Jesus Christus. Das Gewitter ist die Beichte, durch die die Schlangen, die Sünde und Teufel verkörpern, vertrieben werden. Der Teufel selbst ist der Drache, und die Kaufleute sind Priester[5].
16. Jahrhundert[]
Der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat berichtet von einem Küfner aus Luzern, der beim Holzsammeln in eine Drachengrube fällt und überlebt, indem er das Salz wie die Drachen vom Felsen leckt und sich schließlich nach dem Winter am Schwanz eines Drachen herausziehen lässt. Oben stellt er jedoch fest, dass er niemanden mehr erkennt. Schließlich stellt sich heraus, dass er seit hundert Jahren vermisst wird[6].
17. Jahrhundert[]

Darstellung des Drachen auf dem Messgewand von Johann Jakob Scheuchzer, 1723
Eine andere Version erzählt von einem Mann, der vom November 1565 bis April 1566 mit zwei Drachen in einer Höhle am Pilatus gefangen war. In dieser Version war es Salpeter, den der Mann und die Drachen von den Wänden leckten. Als er zu seinen Liebsten zurückkehrte, erkannten diese ihn nicht wieder, da er sich so sehr verändert hatte. In dieser Version ertägt der Mann keine feste Nahrung mehr, ernährt sich aber noch von Suppen, bevor er ein halbes Jahr später stirbt. Die Geschichte soll in ein Messgewand gestickt worden sein, das in der Kirche St. Leodegar im Hof aufbewahrt wurde[7][3].
Die Darstellung der Sage in der Kirche St. Leodegar im Hof erinnert stark an einen Asiatischen Drachen[3]. Vermutlich handelt sich um einen chinesisch inspirierte Verzierung, die erst später mit der Sage in Verbindung gebracht wurde oder diese sogar inspiriert hat. Dies vermutete bereits im 18. Jahrhundert der Naturforscher Moritz Anton Kappeler, laut dem der Seidenstoff von einer Beschaffenheit sei, die in Europa so nicht hergestellt wird[8]. Anders als die Drachen der meisten europäischen Sagen sind Chinesische Drachen den Menschen oft freundlich gesonnen[9]. Tatsächlich kommt das Motiv des steinleckenden Drachen, von dem auch der Mensch lernt, sich so zu ernähren, auch in dem chinesischen Märchen Der neunköpfige Vogel vor.
Im Jahr 1665 berichtet Athanasius Kircher in seiner Mundus Subterraneus, vermutlich basierend auf Cysats Bericht, wie ein Fassbinder namens Vietor in einer Drachenhöhle landet. Diese Version erinnert stark an die von Cysat beschriebene Version, jedoch muss Vietor nur 6 Monate anstatt 105 Jahre in der Höhle ausharren. Danach ertrug er keine normale Nahrung mehr[10][3][9][11]. Der Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer gibt die Geschichte ebenfalls wieder und nennt Cysat und Kircher als Quellen. Er erwähnt auch seine Frustration mit den widersprüchlichen Jahresangaben in den verschiedenen Quellen und weist auf die offensichtlich chinesisch inspirierte Darstellung auf dem Messgewand hin. Außerdem vergleicht er die Geschichte mit Matthäus Paris Geschichte des Veneziers Vitalis und anderen vergleichbaren Geschichten[3].
Auch Johann Weichard von Valvasors Die Ehre dess Hertzogthums Crain (1689) enthielt eine Version der Sage, in der der Autor den Vorfall mit der biblischen Episode von Daniel in der Löwengrube vergleicht[12]. Die Gebrüder Grimm berichten, dass das Ereignis sich laut Kirchenbüchern im Jahr 1420 zugetragen hat, und der Mann war nur vom 6. November bis 10. April dieses Jahres in der Spalte gefangen war. Über sein Schicksal nach der Rettung berichten sie nichts[13]. Als Quellen geben sie neben Valvasor, Scheuchzer und der Gesta Romanorum auch Johann Heinrich Seyfrieds Medulla Mirabilia Naturae (1679) an[14][13].
Sagen aus Uri[]
In seiner Sammlung "Sagen aus Uri" sammelte Josef Müller 1925 diverse Varianten der Sage aus dem Kanton Uri in seinem Buch Sagen aus Uri
Die Drachenhöhle am Bristenstock[]
Laut Johann Josef Walker aus Meitschligen in Gurtnellen soll am Bristenstock ein Hirte mehrmals einen höllischen Drachen (schweizerdeutsch der hellisch Track) gesehen haben, der jedes Mal aus Westen, vom Berg Grossgander, gefolgen kam und in einem Felsspalt im Bristenstock verschwand. Als die Zeit gekommen war, dass der Drache bald wieder auftauschen dürfte, legte der Hirte sich auf die Lauer[15].
Da kam der Drache angeflogen, der Felsspalt öffnete sich und der Drache flog hinein. Der Hirte konnte gerade noch hinterherspringen, als sich der Felsspalt wieder schloss und ihm den Rückweg versperrte. Fast ein Jahr war er in der Höhle des Drachen gefangen und überlebte nur, da er wie der Drache das Gold von den Felswänden leckte[15].
Als sich der Felsspalt wieder öffnete warf der Drache noch einen Blick auf den Menschen und flog davon. Auch der Hirte verließ den Spalt, bevor er sich wieder schloss. Zurück zuhause schmeckte ihm kein normales Essen mehr und er verhungerte bald. Als man der Leiche den Magen öffnete, fand man darin eine große Menge Gold[15].
In der Drachenhöhle[]
Eine Variante, die Müller von einer Frau Wipfli-Herger erzählt wurde, erzählt wie ein Gämsenjäger in einen Felsspalt fiel, der dort von einem freundlichen Drachen lernte, die Flüssigkeit an den Felswänden aufzulecken, um zu überleben[16].
Als der Drache aus der Höhle kletterte, versuchte er dem Jäger mitzuteilen, sich an seinem Schwanz festzuhalten, indem er aus der Höhle kroch und den Schwanz in die Höhle hängen ließ. Doch der Jäger verstand diese "Drachensprache" nicht und das Tier flog ohne ihn davon. Der Jäger vermisste seinen einzigen Freund sehr, doch nach langer Zeit kehrte dieser zurück. Als sich der Drache dann wieder einmal aufmachte, die Höhle zu verlassen, verstand der Mensch was zu tun war, und klammerte sich am Drachenschwanz fest[16].
Der Drache flog vorsichtig und setzte den Jäger behutsam außerhalb der Felsspalte ab, von wo der Jäger bald nach Hause fand. Doch in seiner Heimat kannte er keinen einzigen Menschen, und wo sein Haus einst stand stand ein anderes, von dessen Bewohnern ihn niemand kannte. Mithilfe alter Bücher des Pfarrers fanden sie heraus, dass er seit 105 vermisst wurde[16].
Doch lange lebte er nicht unter den Menschen, da ihm kein Essen mehr schmeckte. Nach seinem Tod wurde in seinem Magen eine Goldkugel gefunden[16].
Weitere Versionen[]
Andere von Müller erwähnte Varianten erzählten, dass der Jäger 5 oder 7 Jahre in der Höhle lebte oder dass er Gold als Proviant an die Oberfläche mitnahm und erst verstarb, nachdem dieses aufgebraucht war[16].
Lindwurm in Gamidaur[]
Hauptartikel: Lindwurm in Gamidaur
Jakob Kuoni veröffentlichte 1903 eine Variante aus St. Gallen unter dem Titel Lindwurm in Gamidaur, in der es ein Küher aus Vilters-Wangs, der in die Felsspalte fällt. Der Ablauf ist ähnlich wie in der Sage vom Bristenstock, doch nachdem er aus der Felsspalte entkommt, wird der Küher von einem Venezier gerettet, der den Lindwurm an einen Baum fesselt. Jedoch stellt sich auch in dieser Version heraus, dass niemand mehr den Küher erkannte und ihm kein normales Essen mehr schmeckte[17].
Motive[]
Auch in Sagen über Feen aus der europäischen und Dschinn aus der arabischen Folklore ist es ein häufiges Motiv, dass Menschen in ein Feenreich kommen, und wenn sie zurückkehren ist in der Menschenwelt viel mehr Zeit vergangen als gedacht. Auch konnten Menschen, die Feen-Essen gekostet haben, oft keine menschliche Nahrung mehr ertragen.
Die Rettung des Mannes, der sich am Schwanz des Drachen festhält, erinnert an Sindbads Flucht aus dem Tal der Diamanten, indem er sich am Vogel Roch festhält[18]. Dieses Motiv geht auf frühere Erzählungen zurück und ist in der Form mit dem Vogel bereits in al-Sīrāfīs "Ṣaḥīḥ min akhbār al-biḥār wa-‘ajā’ibihā" (ca. 1009) nachgewiesen[19][20].
Dass Drachen sich von Gold ernähren kommt auch bei den Golddrachen vom Saastal vor.
Quellen[]
- ↑ Reynold A. Nicholson (1911), The Kashf al-mahjúb: The oldest Persian treatise on Súfiism, Vol. XVII, Brill, S. 146
- ↑ Frederic Madden (1866), Matthaei Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Historia Anglorum, sive, ut vulgo dicitur, Historia minor, Longmans, Gree, Reader and Dyer, S. 54
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Johann Georg Sulzer (1746), Johann Jacob Scheuchzers Natur-Geschichte des Schweizerlandes: sammt seinen Reisen über die schweitzerische Gebürge, Teil 2, S. 228-230, https://doi.org/10.3931/e-rara-27207
- ↑ 4,0 4,1 Von der Befreiung des Menschengeschlechts aus der Höllengrube in Dr. Johann Georg Theodor Gräße (1905), Gesta Romanorum, Zweite Hälfte, Richard Löffler, S. 95-96
- ↑ OF DELIVERANCE FROM HELL in Charles Swan (1871), Gesta Romanorum, entertaining moral stories, Routledge (1905), S. 251-252
- ↑ Johann Leopold Cysat (1661), Beschreibung deß Berühmbten Lucerner- oder 4. Waldstätten Sees, Hautt, S. 174
- ↑ Caspar Schott (1662), Physica curiosa, sive mirabilia naturae et artis libris XII, Endterus
- ↑ Moritz Anton Kappeler (1767), Pilati montis historia, Johann Rudolf Im Hof und Sohn, Deutsche Übersetzung: Naturgeschichte des Pilatusberges im Luzernbiet der Schweiz, Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern, Band 18 (1960), https://doi.org/10.5169/seals-523466
- ↑ 9,0 9,1 The mysterious dragon of Lucerne, A Book of Creatures (2017)
- ↑ Athanasius Kircher (1665), Mundus subterraneus, quo universae denique naturae divitiae
- ↑ Ausführliche und accurate Beschreibung nebst genauer Abbildung einiger vorhin fabelhafter Geschöpfe welche in der heutigen Naturgeschichte berühmter Schriftsteller gänzlich verändert und ins Licht gestellet sind : mit einigen Kupfern erläutert, Leipzig (1784)
- ↑ Johann Weichard Freiherr von Valvasor (1689), Die Ehre des Hertzogthums Crain, Erasmus Francisci, S. 440-
- ↑ 13,0 13,1 216. Der Drache fährt aus in Jacob und Wilhelm Grimm (1816), Deutsche Sagen, Band 1, Nicolai, S. 297–299
- ↑ Johann Heinrich Seyfried (1679), Medulla Mirabilium Naturae, Lichtenthaler, S. 646-648, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11110245-2
- ↑ 15,0 15,1 15,2 Die Drachenhöhle am Bristenstock in Josef Müller (1926), Sagen aus Uri
- ↑ 16,0 16,1 16,2 16,3 16,4 in der Drachenhöhle in Josef Müller (1926), Sagen aus Uri
- ↑ 196. Der Lindwurm in Gamidaur in Jakob Kuoni (1903), Sagen des Kantons St. Gallen, Ed. Olms (1979), ISBN 9783283000202
- ↑ Sidney John Hervon Herrtage (1960), The early English versions of the Gesta Romanorum, Milford, S. 522
- ↑ Abū ‘Imrān Mūsā ibn Rabāḥ al-Awsī al-Sīrāfī (ca. 1009), الـصـحـيـح من أخـبـار الـبـحـار و عـجـائـبـهـا (Ṣaḥīḥ min akhbār al-biḥār wa-‘ajā’ibihā)
- ↑ Ahmed Al-Rawi (2017), A Linguistic and Literary Examination of the Rukh Bird in Arab Culture, Al-'Arabiyya, Vol. 50, S. 105-117, https://www.jstor.org/stable/26451398