Der Landmann und die Schlange (lat.: De dracone et villano, auch Draco, Villanus, et Vulpes Iudex, Der Drache, Der Landmann und der Fuchsrichter[1]) ist eine Fabel, deren älteste bekannte Version vom römischen Dichter Phaedrus im 1. Jahrhundert stammt. Im Perry Index hat sie die Nummer 640, im Aarne-Thompson-Uther-Index die 155.
Phaedrus[]
Phaedrus erzählt von einem Mann, der eine fast erfrorene Schlange fand und sie an seiner Brust wärmte. Als das Tier sich erholt hatte, biss es den Mann, der sofort starb. Die Moral der Fabel ist bei Phaedrus, dass man den Bösen niemals helfen sollte[2].
Panchatantra[]
Die indische Fabelsammlung Panchatantra (ca. 3. Jahrhundert) enthält eine Version, in welchem die älteste bekannte Inkarnation des Motivs der Richter vorkommt, welches in späteren Versionen häufig ist und AaTh 155 definiert[3]. In dieser Version bittet ein Krokodil einen Brahmanen, es nach Varanasi mitzunehmen, damit es im Ganges leben könne. Doch als der Brahmane es in den Ganges wirft, packt es sein Bein und droht, ihn mit sich zu reissen. Er wirft dem Krokodil seine Undankbarkeit vor, doch das Krokodil verweist ihn auf den Zeitgeist, seine Ernährer zu verzehren[4].
Der Brahmane besteht darauf, dass der Disput von Schiedsrichtern geklärt wird. Zunächst fragen sie einen Mangobaum, welcher erzählt, dass die Menschen, nachdem sie seine Früchte und seinen Schatten genossen hatten, ihm auch seine Wurzeln nehmen würden. Auch die Kuh berichtete, dass die Menschen sie, wenn sie ihnen nichts mehr nützt, stets verstoßen würden. Als dritten Richter fragen sie einen Fuchs, der zunächst auch geneigt ist, gegen den Brahmanen zu entscheiden. Doch um ein faires Urteil zu fällen, möchte er zunächst die Umstände genauer erkennen, und er bittet das Krokodil, wieder in den Sack des Brahmanen zu klettern. Als es darin gefangen ist, wird es mit einem Stein getötet und vom Fuchs gefressen[4].
Gesta Romanorum[]
Eine Version aus der Gesta Romanorum, einer moralischen Handschrift aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert, enthält ebenfalls einen Richter.
Auf der Jagd fand ein Kaiser eine Schlange, die einige Hirten an einen Baum gebunden hatten. Aus Mitleid befreite er die Schlange und wärmte das fast erfrorene Tier mit seinem Körper. Kaum hatte die Schlange sich aber erholt, biss sie den Kaiser und vergiftete ihn so. Als er sie fragte, warum sie das getan hatte, antwortete die Schlange, dass niemand sich seiner Natur erwehren kann. Der Kaiser habe getan was er kann, und so habe die Schlange es ihm mit ihrem Gift zurückgezahlt, denn das Gift sei alles was sie habe. Außerdem sei sie ein Feind des Menschen, da sie wegen den Menschen mit einem Fluch belegt wurde[5].
Der Kaiser und die Schlange beschlossen, einen Propheten zwischen ihnen richten zu lassen, um herauszufinden, wer im Recht war. Der Prophet gab an, dass er nur fair entscheiden könne, wenn er den Fall genau betrachten könne. Darum müsse der Kaiser die Schlange wieder so festbinden, wie er sie gefunden hatte. Danach fragte er die Schlange, ob sie sich noch bewegen könne, und als sie dies verneinte, verurteilte er sie zum Tode aufgrund ihrer Undankbarkeit[5].
Die Gesta Romanorum interpretiert die Fabel so, dass der Kaiser ein Gläubiger ist, die Schlange der Teufel. Die Hirten, die sie einst gebunden haben, sind christliche Priester, die dem Gläubigen ein gerechtes Leben vorleben[5].
Der Edelstein[]
Ulrich Boners Fabelsammlung "Der Edelstein" (ca. 1350) enthält eine Version, in welcher ein Mann eine Schlange findet, die ein Hirte an einen Baum gebunden hatte. Er befreit sie, und wird im Gegenzug gebissen. Die Schlange besteht darauf, dass dies eine gerechtfertige Reaktion sei, woraufhin sie einen Fuchs um Rat fragen. Der Fuchs verlangt, dass die Schlange wieder an den Baum gebunden wird, damit er die Situation besser einschätzen kann, und als dies geschehen ist, rät er dem Mann, sie dort zu belassen, damit sie ihn nicht mehr beissen kann[6].
Äsops Fabeln[]
Eine Variante der Fabel erschien 1477 in Heinrich Steinhöwels Ausgabe von Äsops Fabeln. In dieser Version findet ein Arbeiter einen Drachen in einem ausgetrocknetem Fluss. Ohne Wasser konnte der Drache sich nicht bewegen. Auf Wunsch des Drachen band der Arbeiter das Tier auf seinen Esel, und der Drache versprach ihm Gold und Silber, wenn er in zu einem Fluss bringe. Als er den Drachen aber am Fluss losband und seine Bezahlung verlangte, sagte der Drache, er würde ihn stattdessen fressen[7][8][9][10].
Ein Fuchs hörte den Streit der beiden und bot sich als Richter an. Sie erzählten ihm ihre Geschichte, und um sie gut beurteilen zu können, verlangte der Fuchs, dass der Mann den Drachen wieder genau so fest binden sollte. Als er ihn so fest angebunden hatte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Dann sagte der Fuchs dem Mann, er solle den Drachen dorthin zurückbringen wo er ihn gefunden hatte und dort gefesselt liegen lasen, dann würde er ihn nicht fressen können[7][8][9].
Folklore[]
Ähnliche Geschichten kommen in Volkssagen verschiedener Kulturen vor. Wenige afro-amerikanische Versionen enden mit dem Tod des helfenden Menschen und der Moral, niemals einer Schlange zu vertrauen[11][3], jedoch ist die Variante mit dem Richter häufiger. Die Protagonisten können auch andere Tiere sein, z.B. ein Hase und ein Wolf, mit einer Schildkröte als Richter. In keiner afrikanischen Version kommt eine gefrorene Schlange vor, weshalb das Motiv in afro-amerikanischen Versionen vermutlich auf literarische europäische Versionen zurückgeht[3].
Auch aus Sizilien ist eine Version der Fabel bekannt, welche von Reinhold Köhler gesammelt wurde. Eine apokryphe Kindheitsgeschichte kennt Jesus als Richter[3].
Allgemein sind verschiedene Tier-Motive in verschiedenen Regionen häufiger oder seltener. In Ägypten und Ostafrika, selten auch in Indien, ist es ein Krokodil, in Nordeuropa ein Bär, in Europa und Afrika sind Schlangen häufig, auch Großkatzen sind sehr beliebt. Schlangen, Drachen und Krokodile sind in Sagen häufig austauschbar, und durch Übersetzungsfehler können auch weniger ähnliche Tiere die gleiche Rolle einnehmen[3].
Motive[]
Der schwedische Folklorist Waldemar Liungman kategorisiert Varianten der Fabel in 4 Typen[12]:
- Ein Mann mit einem Esel oder Maultier bringt ein austrocknendes Krokodil zum Wasser. Der Fuchs als Richter lässt ihn das Krokodil wieder an seinen ursprünglichen Ort zurückbringen.
- Ein Mann belebt einen toten Löwen wieder, der Richter ist ein Schakal.
- Ein Mann befreit eine Schlange aus dem Feuer, die Richter sind ein Pferd oder Rind, ein Hund oder Baum und ein Fuchs.
- Ein Mann wärmt eine gefrorene Schlange, der Richter ist ein Fuchs.
Aurelio Macedonio Espinosa entwickelte eine noch genauere Einteilung der Motive, wobei er Liungman bezüglich der Typen des Krokodils und der gefrorenen Schlange zustimmt[13]. Die älteste Version, die die gefrorene Schlange mit den Richtern kombiniert, ist eine spanische jüdische Sage aus dem 11. Jahrhundert. In dieser scheinen zwei zuvor unabhängige orale Traditionen kombiniert worden zu sein, bei denen es sich vermutlich um die gefrorene Schlange und das Krokodil und die Richter handelt[3].
Ein verwandtes Märchen ist "Der Geist im Glas", welches von den Brüdern Grimm gesammelt wurde. Hier befreit ein Mann einen Geist aus einer Flasche, woraufhin der Geist droht, ihm den Hals zu brechen. Doch der Mann besteht darauf, dass er dies nicht tun könne, ohne weitere Meinungen einzuholen. Schließlich kann er ihn überreden, in das Glas zurückzukehren, um die Situation besser einzuschätzen[14]. Hier nimmt der Mann die Rolle des Opfers und des Richters selbst ein[3].
Der Vergleich mit der Sage von Androklus (AaTh 156) lässt ein anderes Ende zu. Während in den bisher genannten Versionen der Geschichte das Tier undankbar ist für die Hilfe, die es erhält, zeigt sich der Löwe gegenüber Androklus sehr dankbar. Damit bildet dieses Motiv eine Art gegenstück zu AaTh 155, und der Zuhörer weiß erst durch das Ende, mit welchem Märchentyp er es zu tun hat[3]. Andere Varianten des dankbaren Tieres sind das Motiv des Löwenritters und der Dankbaren Schlange.
Wenn mehrere Richter vorkommen, handelt es sich bei allen bis auf den letzten meist um domestizierte Tiere oder Bäume, die ihr Leben lang dem Menschen gedient haben und dann zum Dank getötet wurden. Das Motiv der Tiere, die sich über die ungerechte Behandlung durch Menschen beschweren, kommt auch in anderen Märchentypen vor, z.B. AaTh 130 (siehe Die Bremer Stadtmusikanten)[3].
In der Populärkultur[]
- Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing schrieb die Version "Der Knabe und die Schlange", in welcher der Knabe, der die bereits von Boner und Steinhöwel veröffentlichte Version der Fabel gelesen habe, einer Schlange Undankbarkeit vorwarf. Die Schlange aber erwidert, dass die Geschichtsschreiber der Schlangen die Geschichte so niedergeschrieben hätten, dass der Mann die Schlange damals für tot hielt und wegen ihrer schönen Haut verkaufen wollte. Lessings Moral ist, dass man, wenn jemandem Undankbarkeit vorgeworfen wird, zunächst alle Umstände prüfen solle, bevor man ihn verurteilt[15]
- Die Band In Extremo hat 2016 auf ihrem Album Quid pro Quo die Grimm-Version der Geschichte unter dem Titel "Flaschenteufel" vertont.
- In Ludwig Bechsteins Sage Die Schlange als Gast spielt dieser auf das Landmann und Schlange Motiv an, indem er explizit erwähnt, dass diese Schlange nicht so undankbar war wie "jene im Märchen, die ihren Wirten heimlich Gift in die Suppe spie". Auch im Märchen Die Schlangenamme wird explizit erwähnt, dass Schlangen nicht so undankbar sind, wie die menschliche Folklore es vermuten lässt.
Siehe auch[]
- Der Skorpion und der Frosch, eine sehr bekannte Variante des Motivs
- The Ungrateful Snake, eine Version des äthiopischen Berta-Volkes.
- The White Man and Snake, eine Version des südafrikanischen San-Volkes
- The Tiger, the Brahman, and the Jackal, eine indische Version, gesammelt von Joseph Jacobs
- L’Homme et la Couleuvre (dt.: Der Mensch und die Natter), eine Version des französischen Autors Jean de La Fontaine
- Der Landmann und die Schlange, deutsche Übersetzung von La Fontaines Fabel
- Befreite Schlange, Mann und Fuchs (Erzählstoff), Sammlung mittelalterlicher Inkarnationen des Motivs
Quellen[]
- ↑ Laura Gibbs (2010), Mille Fabulae Et Una. 1001 Aesop’s Fables In Latin, Lulu Publishers, S. 200
- ↑ Henry Thomas Riley (1887), The Comedies of Terence and the Fables of Phædrus, George Bell & Sons, S. 420
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 3,7 3,8 Christine Goldberg (1996), The Ungrateful Serpent (AaTh 155), Fabula, Vol 37 (3-4), S. 248-258, https://doi.org/10.1515/fabl.1996.37.3-4.248
- ↑ 4,0 4,1 Theodor Benfey (1859), Pantschatantra: fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen, Brockhaus, S. 113-114
- ↑ 5,0 5,1 5,2 Charles Swan (1844), Tales from the Gesta Romanorum, Routledge (1905), S. 364-365
- ↑ Von einem slangen, was gebunden in Ulrich Boner (vor 1350), Der Edelstein, G. J. Göschen (1844), S. 124-125
- ↑ 7,0 7,1 Heinrich Steinhöwel (1477), Fabulae, S. 83r
- ↑ 8,0 8,1 Charles Swan (1844), Tales from the Gesta Romanorum, Routledge (1905), S. 466
- ↑ 9,0 9,1 The fourthe fable is of the dragon and of the herte in William Caxton (1484), The fables of Aesop, Liber Quintus, Ballantyne Press (1928)
- ↑ 5.4. Of the dragon and of the kerle in William Caxton (1484), Aesop's Fables, Harvard University Press (1967)
- ↑ Richard M. Dorson (1967), American Negro Folktales, Courier Dover Publications (2015), ISBN 9780486796802
- ↑ Waldemar Liungman (1952), Varifrån kommer våra sagor?, Förlagsaktiebolaget Vald Litteratur
- ↑ Aurelio Macedonio Espinosa (1926), Cuentos Populares Españoles, Stanford University Press, Vol. 3
- ↑ Der Geist im Glas in Jacob und Wilhelm Grimm (1815), Kinder- und Hausmärchen, Band 2, Realschulbuchhandlung, S. 68-73
- ↑ Der Knabe und die Schlange in Gotthold Ephraim Lessing (1759), Fabeln, Zweites Buch, Voß, S. 39